Anastasia: «Während du das Gebet [Vaterunser] vortrugst, habe ich versucht, seinen Sinn zu erschließen und deine Gedanken und Gefühle zu verfolgen. Die Bedeutung der Worte ist mir klar, aber du hast sie nur teilweise verstanden. Du warst in Gedanken kaum dabei, und deine Gefühle fehlten ganz. Auch hast du dich gar nicht an jemanden gewandt. Kurzum, du hast einfach etwas dahergemurmelt.»
Wladimir: «Der Text ist vielleicht sprachlich nicht auf dem neuesten Stand, aber ich habe ihn nicht erfunden, das ist die Originalversion. Außerdem solltest du erstmal hören, was die Leute in der Kirche sonst noch so alles beten. […] Manchmal wird auch ganz schön genuschelt, das habe ich selber gehört. Deshalb habe ich extra langsam und deutlich gesprochen, damit du auch alles verstehst.»
«Aber du hast doch vorhin gesagt, ein Gebet sei ein Gespräch mit Gott.»
«Ja, na und?»
«Gott, unser Vater, ist eine Person, ein lebendes Wesen. Er fühlt und versteht es, wenn du tatsächlich mit Ihm reden willst. Aber du …»
«Was soll mit mir sein? Alle beten so zu Gott.»
«Stell dir mal vor, deine Tochter Polina würde dich auf einmal auf monotone, geistesabwesende Weise ansprechen und sich auch so ausdrücken, dass sie es selbst kaum versteht. Würde das dir als Vater vielleicht gefallen?»
[…]
«Wahrscheinlich hast du Recht», sagte ich zu Anastasia, «ich konnte dem Gebet tatsächlich nicht ganz folgen. […]»
«Wladimir, selbst diese Fassung des Gebets kann man verstehen. In modernem Russisch würde man sich zwar etwas anders ausdrücken, aber der Sinn wird durchaus ersichtlich, wenn du darüber nachdenkst, was dein Vater im Himmel dir bedeutet und was Ihn erfreut. Was willst du Ihm mit deinem Gebet sagen?»
«Nun, eben das, was dort gesagt wird. Ich bitte darum, dass Er mir Brot gibt, dass Er uns von unseren Sünden erlöst, dass Er mich nicht in Versuchung führt und mich von dem Bösen befreit.»
«Wladimir, Gott hat all Seine Söhne und Töchter von ihrer Geburt an reichlich mit Nahrung versorgt. Sieh dich nur um, alles ist dir gegeben. Er liebt uns, daher führt Er uns nicht in Versuchung. Und unsere Sünden verzeiht Er uns auch, ohne dass wir Ihn darum bitten. Auch hat Er uns alle mit der Fähigkeit ausgestattet, dem Drang des Bösen nicht nachzugeben. Warum kränkst du den Vater durch solche Ignoranz? Du bist von Seinen ewigen Gaben umgeben. Der liebende Vater hat Seinen Kindern alles gegeben. Was soll Er sonst noch tun?»
«Und wenn es doch noch etwas gäbe, was Er uns nicht gegeben hat?»
«Gott ist ein Maximalist. Er hat Seinen Söhnen und Töchtern von Anfang an alles gegeben – ausnahmslos alles! Er ist wie ein liebender Vater, für den es keine größere Freude gibt als die Genugtuung, seine Kinder glücklich zu sehen. Sage mir, Wladimir, was soll der göttliche Vater, der Seinen Kindern von Anfang an alles gegeben hat, davon halten, wenn sie sich vor Ihn stellen und tagein, tagaus betteln: ‹Mehr! Gib uns mehr! Rette uns, wir sind hilflos, wir sind nichts!› Sag, kannst du dir vorstellen, dass du oder irgendeiner deiner Freunde solche Kinder haben möchte?»
Zitat aus: Band 4, Seite 62