Eine Weile betrachtete ich schweigend Anastasia im Mondlicht, wie sie auf dem Rand des Bettes saß und fromm ihre Hände auf den Knien gefaltet hielt. Tja, und dann … ich kann bis heute nicht verstehen, wie es kam, aber plötzlich fiel ich vor ihr auf die Knie und sagte: «Ich habe jetzt verstanden, wer du bist, Anastasia. Du bist eine große Göttin.»
Ein Ausruf der Verzweiflung und des Schmerzes entrang sich dem Munde Anastasias. Sich von mir abwendend, sprang sie auf, lehnte sich an die Wand und drückte flehentlich ihre Hände an die Brust. «Wladimir, bitte steh auf und lass ab von solcher Ehrerbietung. O großer Gott, was habe ich nur angerichtet! Ich habe versucht, es Deinem Sohn zu erklären, und vermochte es nicht. Wladimir, vor Gott sind alle Menschen gleich. Es ist nicht recht, dass Menschen einander huldigen. Ich bin eine Frau, ein gewöhnlicher Mensch!»
«Du unterscheidest dich aber schon recht stark von den anderen Menschen, Anastasia. Wenn du ein gewöhnlicher Mensch bist, wer bin dann ich?»
«Auch du bist ein Mensch, nur hast du dein Leben bisher in solcher Hast verbracht, dass du nicht an deine Bestimmung denken konntest.»
«Wie stehst du zu Moses, Jesus Christus, Mohammed, Rama und Buddha? Wer waren sie?»
«Du hast die Namen meiner älteren Brüder genannt, Wladimir. Es steht mir nicht zu, über ihre Werke zu urteilen, doch so viel kann ich dir verraten: Keiner von ihnen hat in vollem Ausmaß irdische Liebe erlangt.»
«Das kann nicht sein. Jeder von ihnen hat heutzutage Millionen von Anhängern, die sie anbeten.»
«Anbetung ist kein Zeichen von Liebe. Durch Anbetung überträgt der Mensch einen Teil seiner geistigen Energie an den Angebeteten. Im Laufe der Jahrmillionen haben meine Brüder so riesige Speicher von Energien angelegt, so genannte Egregore*, die von den Anbetenden stammen und kosmisch absorbiert wurden. Jeder der Anbetenden hat dadurch aber einen wesentlichen Teil seiner Energie verloren. Immer wieder wurden meine älteren Brüder dafür kritisiert. Auch ich habe nicht verstanden, zu welchem Zweck sie ihre Egregore zu solch überdimensionaler Größe anschwellen ließen. Bis heute konnte niemand ihr Geheimnis erraten. Jetzt aber haben meine Brüder beschlossen, diese Energien zu vereinen und sie in einem mächtigen Strom über die Menschen der Erde auszugießen. Eine neue Ära naht, in dem Götter die Erde besiedeln werden – jene Menschen, deren Bewusstsein es ihnen gestattet, die Energien zu empfangen.
Wladimir, ich flehe dich an: Erhebe dich. Es tut dem Großen Vater weh, Seine Söhne unterwürfig niederknien zu sehen. Nur die Dunkelmächte waren immer darum bemüht, die Bedeutung des Menschen herabzusetzen. Wladimir, wenn du vor mir niederkniest, entfernst du dich von mir und verleugnest dich selbst.»
Anastasia war sehr erregt, und so kam ich ihrer Bitte nach, stand auf und sagte zu ihr: «Ich denke nicht, dass ich mich von dir entfernt habe, Anastasia. Im Gegenteil, mir scheint, ich beginne erst, dich zu begreifen. Nur kann ich nicht akzeptieren, dass Anbetung und Liebe einander stören. Alle Gläubigen sagen doch, dass sie Gott lieben. Was ist also so schlimm daran, wenn ich mich vor dir verbeuge wie vor einer Göttin. Das ist doch kein Grund, sich so aufzuregen.»
«Wladimir, es ist jetzt schon über fünf Jahre her, seit wir einander liebten und unseren Sohn zeugten. Seit jener Nacht hast du mich nie wieder angerührt und hast mir auch keinen Blick mehr geschenkt, wie du ihn anderen Frauen geschenkt hast. Dein Unverständnis und jetzt deine Unterwürfigkeit lassen die Blüte der Liebe nicht erblühen. Von Anbetung kommen keine Kinder.»
* Egregore, siehe Band 3, Seite 213
Zitat aus: Band 5, Seite 222